Financial Times Deutschland – Büro-Messies – Alles in Unordnung
Hier geht's zur PDF-Datei.
Haufenweise Schmierzettel, Akten, halb leere Kaffeetassen und ein Apfelrest von letzter Woche: Das ist die Realität auf deutschen Schreibtischen. Machen wir deshalb alle schlechtere Arbeit? Irgendwie schon, finden Psychologen.
Viel ist nicht los auf dem mächtigsten Schreibtisch Deutschlands: Ein Computer steht darauf, außerdem eine Lampe, zwei Telefone, ein Bernsteinklumpen und – beides Geschenke von Nicolas Sarkozy – eine Schale aus Leder sowie ein rotes Notizbuch. So aufgeräumt präsentierte das Boulevardblatt „Bild” neulich seinen Lesern den Schreibtisch von Bundeskanzlerin Angela Merkel: Lauter nützliche und schöne Dinge hat sie beim Arbeiten vor sich, und gewiss keinen Aktenordner, keine Unterschriftenmappe, von hingeschmierten Notizen ganz zu schweigen. Merkel hat ihre Arbeit erledigt, soll der Betrachter denken. Und am besten gleich ein schlechtes Gewissen kriegen.
Denn, mal Hand aufs Herz: Bei wem sieht der Arbeitsplatz schon so penetrant aufgeräumt aus? Verdorrte Grünpflanzen, halb ausgefüllte Urlaubsanträge, vielleicht eine dreckige Kaffeetasse – das dürfte schon eher das typische Ambiente auf deutschen Schreibtischen sein. Bei vielen stapelt sich irgendwas, und bei der Mehrzahl dürfte auch der Rollcontainer heillos zugemüllt sein mit Schrott aus dem Büroalltag. Macht einen das zu einem schlechten Arbeitnehmer?
Ein bisschen schon, findet Jürgen Kurz: „Leertischler sind effizienter als Volltischler”, sagt der Experte für Büroorganisation. Schreibtischmessies bei BMW , RWE , Lufthansa und Deutscher Bank hat Kurz schon die Unordnung ausgetrieben. Den Teilnehmern an seinen Workshops verspricht er 20 Prozent Zeitgewinn durch ein konsequentes Ablagesystem.
150 Stunden im Jahr vergeudet
Und tatsächlich, laut einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung vergeudet jeder deutsche Arbeitnehmer etwa 150 Stunden im Jahr mit dem Suchen von Dokumenten und Dateien oder der Beschaffung fehlenden Arbeitsmaterials. Das ist wohlgemerkt ein Durchschnittswert, der alle Grade des Schreibtischchaos umfasst – von Post-It-Girlanden am Monitor bis hin zu mannshohen Ablagehalden, die wichtige Vorgänge auf Nimmerwiedersehen verschlucken.
Innerhalb dieser Bandbreite lassen sich laut Cary Cooper unterschiedliche Schreibtischcharaktere ausmachen. Der Psychologe und Arbeitsmediziner sichtete 2003 Hunderte Fotos von Büroarbeitsplätzen in Europa und leitete daraus Archetypen ab – etwa den „konsequenten Familienmenschen”, das ist der Kollege mit lauter gerahmten Fotos auf dem Schreibtisch, die seine Blutsverwandten in allen denkbaren Entwicklungsstufen zeigen. Oder den „Büroanimateur”, jenen Typen, der einen „Ich liebe meinen Job, es ist nur die Arbeit, die ich hasse”-Kaffeebecher besitzt sowie ein witziges Minikatapult für Heftklammern. Ein verbreiteter Archetyp ist nach Coopern auch der Ordnungsfanatiker, auf dessen staubfreiem Tisch sich außer akkurat angerichteten Akten und Schreibwerkzeugen nichts befindet. Für Kollegen ist der Ordnungsfanatiker wegen seiner Pedanterie eine Pest. Der Chef hingegen hält ihn für ein Muster an Effizienz.
Diese Effekte auf die Außenwirkung hat sich Cooper nicht ausgedacht: 500 Führungskräfte sollten im Rahmen seiner Studie sagen, inwieweit sie Angestellte nach dem Zustand ihres Schreibtischs beurteilen. 70 Prozent gaben dabei an, ordentliche Mitarbeiter bei Beförderungen zu bevorzugen. 55 Prozent schließen aus einem unaufgeräumten Schreibtisch auf eine schludrige Arbeitsweise. In Deutschland tun dies sogar 81 Prozent, wie eine 2008 veröffentlichte Untersuchung für den Büroartikelhändler Staples ergab.
Schlechte Karten also für Coopers exzentrischsten Schreibtischtypen – das „chaosbeherrschende Genie”, wie ihn der Wissenschaftler nachsichtig nennt. Leider nimmt diesem Genie in der harten Bürorealität niemand ab, dass es sein Chaos wirklich beherrscht. So war auch Aufräumcoach Kurz misstrauisch, als er während eines Einsatzes ein höchst verdächtiges Ablagesystem aus fünf Plastikschalen aufspürte. „Die waren beschriftet mit 'Wiedervorlage', 'wichtig', 'nachhaken', 'Sonstiges' und 'später'”, sagt er. „Also mit fünf Synonymen für 'nicht jetzt'.”
Steigende Arbeitsbelastung begünstigt Chaos
Zur Ehrenrettung des Betreibers dieses Verschiebebahnhofs muss betont werden, dass nicht nur Faulheit zu wachsenden Aktentürmen führt. Oft ist es schlicht Zeitmangel. Denn während sich früher trefflich über den Büromessie lästern ließ, bei dem sich die ungeöffnete Post der letzten fünf Jahre auf der Tischplatte türmt, ist das Schreibtischchaos heute ein Breitenphänomen. Schuld ist die steigende Arbeitsbelastung.
„Früher hatte man zwei, drei Projekte auf dem Tisch”, sagt Kurz. Heute seien bei vielen seiner Klienten 20 bis 30 parallel zu bearbeitende Aufgaben normal. Jeden dieser Vorgänge müsse der Büromensch präsent haben. Darum schichte er sie auf dem Schreibtisch auf, dass nur ja keine Aufgabe in Vergessenheit gerät. „Ein Trugschluss”, sagt Kurz, „denn irgendwann zieht jeder mal eine Klarsichthülle aus einem seiner Stapel und denkt: ‚Oje, oje, da habe ich was vergessen.‘” Und das bedeutet selbst für Genies Stress, die sich sonst als Herren über das Chaos fühlen.
„Stress ist eine kognitive Notfallsituation”, sagt Michael Kastner, Professor für Organisationspsychologie in Dortmund. Der Mensch greife dann auf primitive Verhaltensmuster zurück. Am Schreibtisch heißt das: Statt klar strukturiert zu handeln, verschlimmert der panisch nach dem verlorenen Dokument Kramende durch sein Wühlen die Situation nur noch. Logisch, dass der chaotische Kollege so alle Vorurteile seiner ordentlichen Schreibtischnachbarn bestätigt.
Dabei sollten die soliden Aufräumer lieber darüber nachdenken, ob ein wenig Unordnung nicht auch vorteilhaft ist. „Wer zwanghaft ordentlich ist, kann nie kreativ sein”, sagt zumindest Psychologe Kastner. Vorgesetzten gibt er den Tipp, nachsichtiger mit chaotischen Kollegen umzugehen. „Der Mensch ist von der Evolution her eine Art Höhlentier”, sagt er. Darum empfahl Kastner auch einer Firma, die Poster unangetastet zu lassen, mit denen die Angestellten die extra neu eingebauten Fenster zum Flur blickdicht beklebt hatten: Sie wollten sich und ihre Schreibtische vor den Blicken der Vorgesetzten schützen.
Auch Kurz glaubt an den Wert des individuellen Schreibtischs. „Der Mensch braucht eine Heimat”, sagt der Schwabe. Es müsse schon etwas wohnlich sein, doch eben mit System – wenn der von ihm propagierte Ordnungssinn bisweilen auch seltsame Blüten treibt. Mehrmals schon zeigten ihm Teilnehmer seines Workshops beim Kontrolltermin stolz ihre Schubladen. Darin hatten sie aus Schaumstoff passgenaue Ablagen für Tacker und Locher bebastelt. „So schlimm”, sagt Kurz, „bin nicht einmal ich.”