Süddeutsche Zeitung – Der Schreibtisch: Ort der Sauberkeit
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Viele Unternehmen verpflichten ihre Mitarbeiter dazu, ihren Arbeitsplatz sauber zu halten. Für manche ist das eine Herausforderung.
Von Katharina Kutsche
Im Büro macht der zivilisierte Mensch einen Schritt zurück und wird zum Jäger und Sammler. Anders ist wohl das Verhalten mancher Kollegen nicht zu erklären, die wahlweise in Papierstapeln oder Aktenordnern das gesammelte Wissen der vergangenen 20 Jahre zusammengetragen haben – jeder am eigenen Arbeitsplatz, versteht sich. Angereichert mit Büromaterial, Technik und persönlichem Klimbim entstehen so an vielen Schreibtischen höchst individuelle Landschaften, zwischen deren Aufbauten sich Fremdsitzer nur mühsam zurechtfinden.
In Zeiten jedoch, in denen Großraumbüros wieder modern werden, in denen Menschen zwischen Betrieb und Heimarbeit hin- und herwechseln, und in denen Unternehmen in eine besonders schicke Einrichtung investieren, kann nicht jeder seinen Arbeitsplatz vollmüllen, Pardon, gestalten, wie er will. Gerade in Unternehmen, in denen Mitarbeiter keine festen Arbeitsplätze mehr haben, sondern täglich einen neuen freien Tisch suchen, gilt eine Regelung, die neudeutsch Clean-Desk-Policy heißt. Mit anderen Worten: Zu Feierabend ist der Schreibtisch blank.
Die Papierstapel erinnern an Unerledigtes – und sorgen für schlechtes Gewissen
Das ist selbst für ordentliche Menschen eine Herausforderung. Dabei hat ein (auf-)geräumter Arbeitsplatz Vorteile. Udo Konradt, Professor für Arbeitspsychologie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, sagt, „unaufgeräumte Schreibtische und Desktops können die Aufmerksamkeit beeinträchtigen”. Aktuell zu bearbeitende Aufgaben liegen neben mittel- oder langfristigen Projekten – und die unbearbeiteten Aufgaben rufen sich dadurch immer wieder ins Gedächtnis. Das lenkt nicht nur die Aufmerksamkeit immer wieder vom Aktuellen ab, sondern macht dem Mitarbeiter auch ein schlechtes Gewissen. „Gerade die Aufgaben von Facharbeitern sind häufig so komplex, dass Ablenkung eher schadet”, sagt Konradt, „es sei denn, die Aufgaben sind kreativ.”
Es gibt viele Studien – und Kollegen –, die die Unordnung am Schreibtisch als kreatives Chaos preisen. Sich ablenken, Blick und Geist wandern lassen, ob nun über Papierstapel oder Familienfotos, kann inspirieren. Leider gibt es aber genau so viele Studien, die das Gegenteil behaupten.
Unternehmen setzen aus unterschiedlichen Gründen auf den sauberen Schreibtisch. Zum einen wollen sie nach außen, gegenüber Kunden und Geschäftspartnern, Aufgeräumtheit demonstrieren. Zum anderen geht es um Leistung. In der Personalauswahl gehen Experten heute von fünf Persönlichkeitsmerkmalen, in der Fachsprache „Big Five” genannt, aus. Sie sagen vorher, ob ein Bewerber später im Beruf wohl erfolgreich ist: emotionale Stabilität, Extroversion, Offenheit, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit. Letzteres sei eines der wichtigsten Merkmale, sagt Konradt. Gewissenhaftigkeit hat zwei Facetten, Fleiß und Ordnungssinn. Die Forscher nehmen an, wer ordentlich ist, reagiert gezielter auf Anreize, nimmt sie besser wahr und ist dadurch leistungsstärker. In der Arbeitsrealität sage der Zustand des eigenen Arbeitsplatzes aber wenig über seinen Besitzer aus, so Konradt.
Das sieht auch Aufräum-Experte Jürgen Kurz so. „Ich sage den Leuten immer, ein unordentlicher Arbeitsplatz sagt nicht, dass Du ein schlechter Mensch bist.” Kurz berät Unternehmen und ihre Mitarbeiter dabei, wie sie ihre Ablage besser strukturieren – sowohl in der ganzen Abteilung als auch am Schreibtisch. Ist jemand von der neuen Ordnung nicht überzeugt, fragt Kurz, ob derjenige schon mal seinen Keller aufgeräumt und wie er sich danach gefühlt habe. „Da sagt keiner: schlecht.”
Für mehr Struktur im Büro spricht aber nicht nur das wohlige Gefühl nach dem Ausmisten. Mitarbeiter arbeiten heute stärker vernetzt mit anderen, konferieren digital. Da ist es sinnvoll, auch den Speicherplatz auf dem Computer so zu ordnen wie den auf Tisch und Regal.
Durch die Suche nach Unterlagen geht wertvolle Zeit verloren
Kurz empfiehlt, für aktuelle und längerfristige Aufgaben einen Pultordner anzulegen. Jede Aufgabe bekommt darin ein nummeriertes Fach, in dem die nötigen Notizen, Protokolle und Berichte gesammelt werden. Was erledigt ist, wird abgelegt – je weniger man die Dinge braucht, desto weiter weg vom Schreibtisch. Wer interessante Informationen und Artikel „für später” sammeln möchte, sollte das in einer Box oder in einem zweiten Pultordner, thematisch geordnet, tun. Alternative ist ein Papierstapel in einem Regal: Überschreitet der eine gewisse Höhe, ist die untere Hälfte wohl verzichtbar und wird rigoros entsorgt. Büromaterial wie Locher und Klebstift gehört bei Kurz in den Rollcontainer, Eingänge sollen in ein Posteingangsfach. So bleibt der Tisch leerer.
Tipps zum Aufräumen und Ordnung halten gibt es viele, Berater wie Kurz auch. Zu wichtig ist vielen Betrieben eine klare Struktur, befeuert durch Berechnungen, dass ihre Mitarbeiter angeblich mehr als zehn Prozent der täglichen Arbeitszeit mit der Suche nach den richtigen Unterlagen verplempern. Darüber lässt sich trefflich streiten. Unstrittig aber ist: Ein ordentlicher Arbeitsplatz ist auch ein Akt der Kollegialität. Wird jemand krank, möchte sein Vertreter sich nicht durch Papierstapel graben, um die nötigen Dokumente zu finden.
Doch was ist, wenn Kollegen auf ihre persönliche, chaotische Note pochen? Aufräum-Berater Kurz hilft auch hier mit einer Analogie aus dem Haushalt aus. „Ich erinnere dann an eine Besteckschublade. Die ist in der Regel auch immer aufgeräumt und sortiert, obwohl niemand das von außen sieht. Trotzdem hat jeder davon einen Nutzen.”