Benediktinische Zeitschrift – Ordnung am Arbeitsplatz statt Chaos auf dem Schreibtisch
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Im Gespräch mit einem Organisationsberater
Tesa-Roller, Aktennotizen in Stapeln, Post-it-Kleber an Wand und PC – trotz digitaler Arbeitsplätze kämpfen auch Ordensleute an ihren Schreibtischen gegen das tägliche Chaos. Clean-Desk-Berater versprechen Hilfe gegen überquellende Ablagen und boomen in der freien Wirtschaft. Aus gutem Grund: Ein sauberer Schreibtisch fördert die Effizienz, spart Zeit und verbessert die Psyche. Wirtschaftsjournalist und Theologe Leonhard Fromm hat Jürgen Kurz gesprochen. Der Geschäftsführer der Beratungsfirma tempus in Giengen/Brenz gilt bundesweit als Meister des Büro-Kaizen. (Kaizen: aus der japanischen Philosophie abgeleitete Methode schrittweiser statt sprunghafter Veränderung.)
Leonhard Fromm: Herr Kurz, was war bislang Ihr schlimmstes Erlebnis als Organisationsberater?
Jürgen Kurz: Ein sammelwütiger Investment-Experte hatte mich in höchster Not zu sich gerufen. An seinem Arbeitsplatz türmten sich hüfthohe Stapel aus bis zu zehn Jahren alten Dokumenten, Prospekten, Zeitschriften und Zeitungen. Entsprechend winzig war die noch freie Fläche auf dem zugemüllten Schreibtisch: Sie reichte gerade noch für eine Kaffeetasse.
Was haben Sie gemacht?
Ich empfehle immer einen mehrstufigen Check, um schrittweise das alltägliche Chaos zu überwinden. Erster Schritt: Dokumentieren Sie per Digitalfoto Ihren jetzigen Arbeitsplatz und vergegenwärtigen Sie sich, dass Sie so von jedem Besucher ihres Büros, egal ob Mitbruder, Geschäftspartner oder Gläubigem, der zum Gespräch kommt, wahrgenommen werden. Aber auch Sie selbst treten mit jedem Eintritt in Ihr Büro in dieses diffuse Energiefeld. Dieses Außen ist ein Spiegel Ihrer Seele.
Und was ist der zweite Schritt?
Besorgen Sie sich eine Altpapierbox. Die darf gerne so groß sein wie Ihr Schreibtisch und einen zweiten Karton für den Abfall auf Probe. Dort lagern Sie alles ein, versehen mit einem Datum, zu dem es entsorgt werden kann, wenn es bis dahin nicht benutzt oder gesichtet wurde. Von Zeit zu Zeit prüfen Sie das Material und wo das Datum abgelaufen ist, geht es in die Altpapierbox, den Mülleimer oder zum Flohmarkt. Das gilt auch für Husten-Bonbons oder Kekse.
Was ist noch zu beachten?
Auf dem Tisch breiten Sie immer nur den einen Vorgang aus, der gerade bearbeitet wird. Hefter, Locher, Tesa-Film und sonstige Büro-Hardware verstauen Sie in der Schublade und am Monitor klebende Post-it-Zettel legen Sie in einem eigenen Handverzeichnis oder in einer To-do-Liste ab. So machen wir in der Büroorganisation aus sogenannten Volltischlern effizientere Leertischler.
Gibt es eine Typologie Ihrer Kunden und welche Grundtypen sind diese?
Das ist nicht meine Herangehensweise. Ich unterscheide generell bei Veränderungsprozessen zwischen Befürworter, Neutralen und Gegnern, egal ob neue Büro-Organisation, neues EDV-System oder neuer Vertriebskanal. Und im Widerstand unterscheide ich die aufrechten Gegner, die mir begründen, warum das Neue nicht funktioniert, und die Partisanen. Die sind schwierig zu identifizieren, weil sie nicht offen reden, sondern hinten herum subversiv. Mein Fokus liegt auf den Neutralen, deren Herzen zu gewinnen. Wenn das gelingt, ist die Gruppe groß genug, dass sich die Veränderung durchsetzt.
Ab wann braucht es überhaupt externe Hilfe?
Weil der Prophet im eigenen Land nicht gehört wird, ist es oft eleganter, jemanden wie mich zu holen. Das hat den Vorteil, dass ich viel Erfahrung mit den Gegnern, den Partisanen und den Neutralen habe. Das Argument: „Herr Kurz, bei uns ist alles anders”, höre ich übrigens in fast jeder Firma. Die Herausforderung ist, die Menschen abzuholen, ohne sie zu bevormunden.
Hatten Sie bereits Mandate im klösterlichen Umfeld?
In meinen Seminaren sitzen immer wieder Pfarrer, die monieren, über all die Verwaltung komme die eigentliche Seelsorge zu kurz. Das schönste Zitat stammt von einer Ordensfrau beim „Kongress christlicher Führungskräfte”. Sie meinte, sie würde sich auf den Himmel freuen, weil dann müsse sie keinen Schreibtisch mehr aufräumen. Meine Antwort war: „Sie dürfen sich gerne auf den Himmel freuen, das mit dem Schreibtisch bekommen wir aber schon vorher hin”.
Wer sind typischerweise Ihre Kunden?
Unsere Seminare zur effizienten Büroarbeit veranstalten wir bei Weltkonzernen wie der Daimler AG oder der Lufthansa, aber auch bei Volksbanken oder ordnungssuchenden Mittelständlern wie Speditionen oder Steuerberatungskanzleien. Das Problem ist überall das selbe: Überladene Schreibtische machen ihren Besitzer, aber auch die Firma unglücklich.
Was gibt es aus wissenschaftlicher Sicht dazu zu sagen?
Nach einer Studie des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung zum „schlanken Büro” werden gut zehn Prozent der Arbeitszeit durch „überflüssige oder fehlende Arbeitsmaterialien” oder „ständiges Suchen nach dem richtigen Dokument in chaotischen Dateiverzeichnissen” verschwendet. Insgesamt entfällt auf die von Büroforschern ermittelte Verschwendung in schlecht organisierten Büros nahezu ein Drittel der Jahresarbeitszeit. Das sind immerhin jährlich 70 Tage, an denen die Angestellten sinnlose Dinge treiben. Dieser Befund müsste alle Personalverantwortlichen aufschrecken.
Und was sind Ihre Erfahrungen?
Wir stoßen mit unseren einschlägigen Seminarangeboten bei Personalmessen auf große Resonanz. Denn nachdem die Produktionspotentiale in Werkhallen und an Fertigungsbändern, vor allem in der Automobilindustrie, seit den 1990er-Jahren gnadenlos optimiert wurden, sind jetzt die Büros dran. Der „Abschied vom Chaos“, sagt der Münchener Fachautor und Theologe Werner Tiki Küstenmacher, dessen Ratgeber Vereinfache Dein Leben Millionenauflagen erzielte, beginnt bei dem eigenen Schreibtisch.
An diesem Möbelstück verbringen viele Menschen mehr Zeit als mit dem eigenen Ehepartner oder – auf Mönche bezogen – als im Gebet.
Nach Statistiken der Kölner Büro-Forums verdienen 18 Millionen Deutsche ihr Geld am Schreibtisch. Hinzu kommen zwei Millionen private Arbeitstische. „Der Arbeitsplatz ist so etwas wie unser nach außen verlagertes Gehirn”, sagt Vereinfachungsforscher Küstenmacher, „was wir im Kopf haben müssen, bildet sich auf fast magische Weise auf unseren Arbeitstischen ab”.
Eine treffende Metapher.
Mehr noch: Laut einer repräsentativen Untersuchung der Büroartikelfirma Staples kann ein chaotischer Arbeitsplatz ein Karrierekiller sein. Immerhin vier Fünftel aller befragten Geschäftsführer größerer Unternehmen in Deutschland sehen einen direkten Zusammenhang zwischen Ordnung und Produktivität. Wir wissen aus unseren Beratungen, dass „ordentliche Mitarbeiter” bei Beförderungen bevorzugt werden, das sie als kompetenter und strukturierter gelten.
Und was läuft in den Köpfen der Volltischler?
Bei der Einschätzung des eigenen Schreibtischverhaltens neigen die Büromenschen zur Beschönigung. Auf die Frage der Staples-Untersuchung „Wie schätzen sie Ihre eigenen Fähigkeiten in puncto Ordnung und Organisation ein?”, antworten gut 45 Prozent: „Ich bin stets perfekt organisiert”. Und fast 65 Prozent halten sich gar für ein „Organisationstalent”, während sich nur ein gutes Fünftel als „latenter Chaot” outet. Ganz ehrlich ist nur ein Prozent der Befragten, die sich als „hoffnungsloser Fall” einschätzen. Die könnten es aber in der modernen Bürowelt schwer haben. Denn der individuelle Arbeitsplatz mit eigenem Gummibaum und Nachwuchsfoto am Bildschirm gehört zumindest nach Meinung effizienzorientierter Büroforscher der Vergangenheit an.
Und was ist die Zukunft?
Das sind mobile, ortungsgebundene Büroarbeiter, die einen verkabelten Arbeitsplatz auf Zeit beziehen, der mit blanker Platte übergeben wird. Im eigens entwickelten Rollcontainer dieser sogenannten „nonterritorialen Arbeitsplätze” sollen alle individuellen Arbeitsmaterialien am Ende des Tages verschwinden. In eigenen „Laboratories” lässt beispielsweise der deutsche Kommunikationskonzern Telekom solche chaosresistenten Arbeitsplätze erforschen, bei denen auch der virtuelle Desktop immer aufgeräumt zu sein hat. Ich teile die Visionen allerdings nicht, zumal im klösterlichen Umfeld: Der gemeine Büroarbeiter braucht weiterhin eine kulturelle Heimat, um produktiv zu sein.
Was halten Sie von der These, dass das Chaos produktiv sei?
Die ist nach Expertenmeinung widerlegt. Denn echte Schreibtischtäter, die gerne witzeln, der Ordentliche sei nur zu faul zum Suchen, zitiert zwar gerne den Physiker Albert Einstein, aber das ist Koketterie. Produktionsgewinne von bis zu 20 Prozent seien durch geordnete Schreibtische zu erreichen, sagt etwa Managementtrainer Hermann Scherer. Als Effizienzprofi, der dicht am Alltag der Menschen mit ihnen aufräumt, attestiere ich manchem, dass er seine Natur als Jäger und Sammler lebt und mancher dabei ein überraschend effizientes Such- und Findesystem entwickelt. In der Arbeitswelt von Großraumbüros und gemeinsam benutzten Arbeitsflächen für moderne Teamarbeit führt das allerdings zu massiven Effizienzverlusten, Revierstreitigkeiten und Frust mit den Ordnungsliebenden.
Was halten Sie von der These, die Zeit zum Aufräumen fehle?
Das ist auch so eine Schutzbehauptung, alles beim Alten zu lassen, sich nicht bewegen und verändern zu müssen. Denn die Zeit zum Suchen und sichten muss man ja auch aufbringen.
Ist Ordnung emotional?
Wenn man Leute fragt, ob sie schon mal ihren Keller aufgeräumt haben, bejahen das die meisten – und lächeln. Warum? Weil es sich gut angefühlt hat. Wenn Leute ihr Chaos verteidigen, hilft eine Frage an die Person, die die Urlaubsvertretung macht – oft hat die regelrecht Angst davor. Gemeinsam aufzuräumen kann eine Mischung aus Klassentreffen und Betriebsfest sein. Die Leute lernen dabei viel voneinander – man stellt viel zu selten infrage, warum man die Dinge im Alltag so macht, wie man sie macht.
Wie kann ich als Führungskraft unterstützen – ohne übergriffig zu sein?
Wenn die Mitarbeiter merken, dass es ihre Arbeit erleichtert und ihnen nützt, muss man gar keine Überzeugungsarbeit leisten. Wenn Angestellte sagen: „Das sind meine Unterlagen”, sage ich: „Mit Verlaub, das sind sie nicht. Es ist noch nicht einmal Ihr Tisch oder Ihr Stuhl.“ Die Freiheit des Einzelnen endet, wo die Aufgabe des Unternehmens in Gefahr ist. Das Geschäft muss weitergehen können, auch wenn Sie nicht da sind. Und ist es nicht auch schön, wenn man aus dem Urlaub wiederkommt und es stapelt sich nichts?
Womit fängt man am besten an, wenn man Ordnung im Büro haben möchte?
Der erste Schritt ist immer: aussortieren. Viele Mitarbeiter stapeln Magazine, Zeitschriften und Hängeschränke voller Akten lange abgeschlossener Projekte. Es gibt immer Leute, die sagen: Wenn mal jemand den Katalog von 1985 sucht, bin ich der Einzige, der noch Auskunft geben kann! Aber das stimmt meist gar nicht. Die meisten Firmen und vermutlich auch Klöster haben ein zentrales Archiv. Und wenn nicht: Stellen Sie einen Bibliotheksschrank neben den Kopierer und sammeln Sie dort, was alle brauchen. Dezentrale Mini-Archive bringen nichts.
Eignet sich dieselbe Art Ordnung für alle?
Nur bedingt, aber es gibt Gemeinsamkeiten. Auch in einer fremden Küche werden Sie schnell herausfinden, wo das Besteck ist: Fast jeder hat eine Besteckschublade und sortiert dort Messer, Gabel und Löffel ordentlich in ihre Fächer. Warum? Weil die Ordnung einfach einzuhalten ist und sich bewährt hat. Die Zugriffszeiten sind minimiert, die Investition des Einsortierens lohnt sich. Die Besteckschublade ist der manifestierte Beweis, dass Audits sinnlos sind: Wenn der Sinn überwiegt, muss man die Ordnung nicht ständig kontrollieren. Das läuft von selbst.
Unterscheidet sich Chef-Chaos von den der Angestellten?
Weder Alter noch Hierarchie machen einen Unterschied. Manche Ältere können die Digitalisierung kaum erwarten, manche Jüngere horten Papier. Nur weil jemand mit Papier arbeitet, muss das übrigens nicht ineffektiver sein. Auffällig ist: wenn Frauen erkennen, dass etwas besser funktioniert, setzen sie es schnell um. Männer brauchen dafür oft länger – aber wenn, dann gibt es kein Halten mehr, die markieren dann mit Klebeband in der Schublade, wo genau der Stift zu liegen hat. Frauen machen das eher nicht.
Gibt es Unbelehrbare?
In all den Jahren sind mir nur eine Handvoll untergekommen. Es gibt echte Messies, die fallen aber nicht in mein Fachgebiet. Und dann gibt es die Leute, die nicht wollen, dass Transparenz einkehrt. Wenn Sie Ordnung halten, sehen die anderen besser, was Sie tun oder nicht tun. Manche Menschen fürchten das. Aber mir geht es ja auch nicht darum, jeden auf das maximal mögliche Ordnungslevel zu bringen. Wenn Sie bei 43 von 100 möglichen Punkten sind und ich Ihnen helfe, auf 63 zu kommen, ist das für Sie eine spürbare Veränderung zum Guten. Wenn Ihr Mitbruder von 12 auf 18 kommt, gilt dasselbe.
Wie kamen Sie zu dem Thema, sich darin zu vertiefen?
Wir haben als Beratungsunternehmen seit den 1990er-Jahren Kaizen, das heißt die schrittweise Verbesserung in der Produktion, mit sehr großem Erfolg praktiziert. Die Mitarbeiter waren, zu meiner großen Überraschung, überhaupt nicht dagegen, sondern haben sich über vereinfachte Abläufe gefreut. Wir haben das dann bei uns in Giengen auf unsere Büros übertragen, die unsere Produktionsstätten sind. Es war nie Ziel, damit als Buch-Autor oder Trainer berühmt zu werden. Besuchern fielen eben die Ordnung und das stressfreie Arbeiten bei uns auf – und wollten das auch haben.
Was ist Ihre vordringlichste Fähigkeit, diesen Aufräum-Job gut zu machen?
Ich bin dankbar, denn ich lerne jeden Tag dazu. Insbesondere das Thema Digitalisierung begeistert mich total. Ich bin von ganz vielen jungen und hoch talentierten Menschen umgeben und empfinde die Arbeit mit diesen als absolutes Privileg. Meine wichtigste Fähigkeit als Berater ist Demut. Wenn ich in Firmen komme, fällt mir sofort auf, was man machen kann. Dann braucht es aber meine Zurückhaltung, den Menschen keine Angst zu machen, ihr seitheriges Arbeiten wertzuschätzen, sie einzubinden, ihnen Zeit zu lassen und sie für die Veränderung zu gewinnen. Aus deren Praxis und meiner Erfahrung entsteht sehr oft ganz tolle, individuelle Lösungen, die den Beschäftigten dann dauerhaft das Arbeitsleben erleichtern.