Stuttgarter Nachrichten – Chaos im Büro senkt die Karrierechancen
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Mitarbeiter verschwenden sechs Wochen ihrer Arbeitszeit mit Suchen – Ist der Schreibtisch zu ordentlich, unterstellen Kollegen Faulheit
Chaos am Arbeitsplatz hemmt die Effizienz und senkt die Karrierechancen. Aufräumexperten helfen überforderten Angestellt, ihr Durcheinander zu beseitigen. Dauerhaft. Sie sind davon überzeugt: Jeder kann Ordnung halten.
STUTTGART. Papierstapel, so weit das Auge blickt. Von der Schreibtischfläche ist nicht mehr zu sehen. Zwischen den Haufen liegen Kugelschreiber und Notizzettel. Ein System lassen sie nicht erkennen. Von den Füßen des Schreibtischs ist auch nichts mehr zu entdecken. Wieder versperren Berge von Papier die Sicht darauf. Und Ordner.
Jürgen Kurz schreckt ein solches Chaos nicht ab. Der Organisationsberater aus dem schwäbischen Giengen hat schon 40.000 Schreibtische aufgeräumt. Die gehörten Mitarbeitern von Daimler und Lufthansa, der Deutschen Bank, der Stadtverwaltung Giengen oder der Storck. Mitarbeiter aus allen Branchen, die eines gemeinsam hatten: Sie verschwendeten die Arbeitszeit damit, auf ihren überfüllten Schreibtischen Akten oder Notizen zu suchen. Kurz schüttelt den Kopf. „Im Büro ist Chaos ein Kavaliersdelikt. Wer einen unaufgeräumten Haushalt hat, gilt als schlampig.“ Dabei schadet ein chaotischer Arbeitsplatz nicht nur dem Betroffenen, sondern der ganzen Firma.
„Wer sein Büro organisiert, kann bis zu 20 Prozent effizienter sein“, sagt Kurz. Das bedeutet: mehr Zeit für Kunden und neue Projekte, für Weiterbildung und die Familie. Eine Studie des Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA) zeigt, dass Firmen ein Drittel ihrer Jahresarbeitszeit verschwenden. Allein die Suche nach Unterlagen und Arbeitsmaterialien macht zehn Prozent aus. „Die Mitarbeiter suchen umgerechnet sechs Wochen lang von morgens bis abends“, sagt Kurz.
Manche Menschen behaupten, sich in ihrem Chaos zurechtzufinden. Das glaubt Kurz sogar. Gelegentlich stecke hinter einem Durcheinander ein logisches System. Doch er hat Einsteins Satz „Das Genies beherrscht das Chaos“ abgewandert in „Das Genie beherrscht sein Chaos“. Wer viele Projekte parallel leitet, habe seine Dinge sicher im Griff. Der Mensch sei aber Teil des gesamten Systems Firma. „Was passiert, wenn das Genie fehlt?“ Die Kollegen finden sich in dessen Chaos nicht zurecht. Und können Kunden dann nicht weiterhelfen. Schlimmstenfalls müssen die Kollegen sie vertrösten – mit gravierenden Folgen vor allem für Unternehmen, die Dienstleistungen erbringen. „Viele Kunden wechseln den Anbieter, wenn der Service schlecht ist.“
Gute Ideen bekommt man nur an aufgeräumten Schreibtischen
Und was ist mit der Ansicht, Chaos deute auf kreatives Arbeiten hin? Kurz schüttelt wieder den Kopf. „Chaos hemmt Kreativität eher.“ Als Beispiel nennt er einen Arbeitstag an einem Feiertag. Kein Kollege stört, man sitzt allein im Büro und kann sich der Arbeit hingeben. So seien Mitarbeiter sehr produktiv. In Firmen wie Werbeagenturen, die von pfiffigen Ideen leben, oder Konstruktionsabteilungen gehört Chaos ein Stück weit dazu. Tische voller Entwürfe, Wände, die mit Zeichnungen zugepflastert sind. „Diese Firmen arbeiten hochgradig strukturiert“, sagt Kurz. Die Mitarbeiter wenden Kreativitäts-Techniken an, die am Arbeitsplatz scheinbar für Chaos sorgen. Dabei laufen wohl durchdachte Prozesse ab.
Auch die Büroexpertin Rita Pohle ist sich sicher, dass nur ein aufgeräumter Arbeitsplatz zu den besten Einfällen führt. Zu ihren Auftraggebern gehören Hotels, Praxen und Altenheime. In ihrem Buch „Weg damit – Business ohne Ballast“ (Hugendubel, 2002) schreibt Pohle, dass es unternehmerische Stagnation bedeute, wenn man sich nicht von Altem trennen kann. Dazu zählen Unterlagen wie brachliegende Kundenkontakte. „Wie kann ich kreativ sein und etwas Neues beginnen, wenn überall alter Kram herumliegt?“ Chaos löse lediglich ein schlechtes Gewissen aus. Ordnung dagegen gebe einem das Gefühl, den Laden im Griff zu haben. Man könne losarbeiten.
Glaubt man Pohle und Kurz, kann jeder dauerhaft ordentlich sein. „Alle Menschen haben Bereiche, die sie aufgeräumt halten“, sagt Kurz. Zum Beispiel in der Küche. Bei den meisten liegen Messer, Gabeln, Löffeln, kleine Löffel und Kuchengabeln getrennt im Besteckkasten. Selbst Kindern fällt es leicht, das Besteck zu sortieren. Warum Menschen dennoch Chaoten sind, erklärt Kurz mit fehlenden vernünftigen Systemen. Arbeitnehmer kümmerten sich um zig Projekte gleichzeitig und glauben, mit Papierablagen alles im Blick zu behalten. Sie bauen Stapel um sich herum oder stecken Papiere in Plastikhüllen. Kurz nennt das eine eingebildete Transparenz. Wer in den Stapeln nach Unterlagen sucht, entdeckt oft die Hüllen, die unerledigte oder vergessene Aufgaben enthalten.
Kurz rät jedem, ein Ordnungssystem anzulegen, das er und Fremde nachvollziehen können. Das können Pultordner sein, die vorne ein Inhaltsverzeichnis haben. Wichtig ist auch, auf dem Schreibtisch nur Unterlagen eines Projekts auszubreiten. 15 herumliegende Stifte? Kein Problem. „Die Frage ist bloß: Schreiben sie alle, und wo suche ich, wenn ich einen anderen benötige?“
Für Pohle sind Büros, die nach dem Feng-Shui-Prinzip eingerichtet sind, ordentliche Büros. „Nur in einem aufgeräumten Rau, kann das Qi, die Energie, fließen.“ Feng-Shui ist eine chinesische Lehre, die den Menschen mit seiner Umgebung harmonisieren will. Dazu werden seine Wohn- und Arbeitsräume auf einen Bestimmte Weise gestaltet. Jedes Zimmer sieht anders aus, ein paar Regeln gelten aber immer: Auf dem Boden stehen weder Ordner noch Papierberge noch Flaschen. Auch auf den Schränken wird nicht abgestellt. Hat ein Schrank Türen sind die geschlossen, vor allem, wenn der Schrank sich hinter dem Schreibtisch befindet. Der sollte zu 50 Prozent leer sein.
Was am stärksten für Ordnung spricht, ist, dass Chaos die Karrierechancen senkt. Hier gilt der Spruch: Für den ersten Eindruck gibt es keine zweite Chance, sagt Karriereberater Martin Wehrle. „Betritt ein Chef ein Büro, in dem es aussieht, als hätte eine Bombe eingeschlagen, schürt das nicht gerade sein Vertrauen.“ Chaos im Büro lasse auf ein inhaltliches Durcheinander schließen. „Eine-E-Mail, bei der der Anhang fehlt, stammt meist von Chaoten.“
INFO: Volltischler
- Aufräumexperte Jürgen Kurz schätzt, dass fünf Prozent der Deutschen Volltischler sind: Am Arbeitsplatz herrscht ein solches Chaos, das den Betroffenen überfordert.
- Extreme Chaoten geben das aber nur ungern zu. In der Untersuchung der Büroartikelfirma Staples gibt nur ein Prozent der Befragten zu, ein „hoffnungsloser Fall“ zu sein. 65 Prozent dagegen bezeichnen sich als „Organisationstalent“. Knapp die Hälfte sagt, dass es hinter ihrer Organisation nicht wirklich System gebe.
Ordentliche Mitarbeiter können chaotische Chefs mitorganisieren
An chaotischen Chefs sollten Mitarbeiter sich kein Beispiel nehmen: „Viele Vorgesetzte sind chaotisch, weil sie überfordert sind“, sagt Wehrle. Das gibt ordentlichen Menschen die Chance, das Chaos zu lichten und den Chef mit zu organisieren. Was einen guten Eindruck hinterlässt. Ebenso ein Mitarbeiter, der mit einem Griff die gewünschte Akte hervorzieht, und nicht der Kollege, der kruschtelt, sagt Kurz. Auch bei Beförderungen würden akkurate Angestellte bevorzugt. Eine Studer der Büroartikelfirma Staples bestätigt die Expertenmeinung. Drei Viertel der befragten Geschäftsführer größerer Firmen finden, dass Mitarbeiter nur in einem ordentlichen Büro produktiv sein können. Für 82 Prozent hängt die Ordnung jenseits des eigenen Bereichs eng mit der Produktivität zusammen.
Der Schreibtisch darf allerdings nicht leer sein. Dann wiederum vermuten Chefs und Kollegen, dass der Mitarbeiter bloß Däumchen dreht, sagt Wehrle. Kurz hält von solchen Glaubenssätzen nichts. „Zuerst reagieren Chefs wie alle Menschen, wenn sie einen tipptopp aufgeräumten Schreibtisch sehen. Wenn der Chef nachhackt, zeigt man ihm einfach sein Ordnungssystem.“
Nach sechs Monaten schaut der Aufräumprofi bei seinen Klienten vorbei. Die meisten entwickeln in der Zeit Gewohnheiten und halten Ordnung. „Menschen räumen zwar ungern auf. Danach haben sie aber ein gutes Gefühl. Aufräumen scheint doch Spaß zu machen.“
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Stefanie Köhler