Stuttgarter Nachrichten – Reset am Schreibtisch

Hier geht's zur PDF-Datei.

AUFRÄUMEN. Fast zehn Prozent der Arbeitszeit im Büro werden durch fehlende Arbeitsmaterialien oder das Suchen von Dokumenten verschwendet. Ordnung macht Büroarbeit effizienter.


Wer einen neuen Job antritt, findet einen leeren Schreibtisch vor. Ein Zustand, der sich schnell ändert. Denn der normale Bürowahnsinn sieht anders aus: Das Telefon unterbricht die Arbeit am PC, der Lieferant hat eine Anmerkung zur Bestellung. Praktisch, die Zettelbox – aber wo, verflixt, ist der Kuli? Hektisches Hin- und herschieben von Unterlagen und Tastatur. In der Containerschublade ist ein Schreibgerät – aber das ist leer. Parallel zuhören, was der Anrufer will. Da, beim Ablagestapel ist er, der Kuli. Hat sich richtig gemein unter überstehende Papiere geschoben. Kann der Lieferant jetzt die 25er- oder die 30er-Spezialschrauben nicht schicken?

Nach einer Studie des Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik und Automatisierung (IAO) zum „Schlanken Büro“ verschwenden Büroarbeiter fast zehn Prozent ihrer Arbeitszeit durch „überflüssige oder fehlende Arbeitsmaterialien“ oder „ständiges Suchen nach dem richtigen Dokument in chaotischen Dateiverzeichnissen“. Fast 30 Prozent der Arbeitszeit wird (würden) in unprofessionell organisierten Büros vergeudet. Das sind mehr als 70 Tage pro Jahr. Ein Schreckensbefund für Chefs.


Ausmisten und Wegwerfen

Sven Maier, Inhaber der schwäbischen Traum-Fabrik, nimmt die Fraunhofer-Studie zum Anlass, seinen eigenen Arbeitsplatz kritisch anzuschauen. Nicht, dass er im Papierchaos versinkt. Was in den Ablageschalen auf seinem Schreibtisch alles schlummert, kann er allerdings nicht auf Anhieb sagen. Der Experte für gesunden Schlaf ahnt, dass seine Firma ein Kandidat für Büro-Kaizen sein könnte. Kaizen ist japanisch und bedeutete „zum Besseren ändern“. 20 Prozent mehr Effizienz verspricht Jürgen Kurz. Der Geschäftsführer von Tempus-Consulting hat das Büro-Kaizen entwickelt. Auslöser waren Kundenbesuche: Tempus-Berater hatten erlebt, dass in der Produktion um jeden Cent gekämpft wird, während niemand die Prozesse in den Büros genauer anschaut.

Maier ist nicht der Typ, der seinem Team einen Aufräumer von außen zumutet, ohne zu wissen, auf was er sich damit einlässt. Er macht sich selbst zum Versuchskaninchen, besucht ein Büro-Kaizen-Seminar. Was er lernt, setzt er erstmal am eigenen Schreibtisch um. „Zum Glück bekommen meine drei Kinder nicht so genau mit, dass ich das mache“, sagt der 43-Jährige. „Jahrelange Diskussionen um die Ordnung im Kinderzimmer würden im Nachhinein unglaubwürdig.“ Der Kaizen Eigenversuch zeigt Wirkung. Am nahezu leeren Schreibtisch und mit klar organisierter Ablage arbeitet der Bad Boller Matratzenhersteller produktiver.

Nach dem Selbsttest holt Maier den Profi-Aufräumer Eckart Lechner in seinen Betrieb. ER spricht mit ihm ab, dass der am Abend vor dem Aufträumtag unangemeldet durch die Büros läuft und Fotos macht. „Dabei soll niemand bloßgesellt werden. Aber ich will die ungeschminkte Schreibtischwahrheit dokumentieren.“ Tags drauf führt der Büro-Organisationsexperte die Traum-Fabrik-Mitarbeiter mit einem Spiel in die Aufräumaktion ein: Um die Wette müssen zwei von ihnen nach Anleitung ein DIN-A4-Blatt falten, mit farbigen Linin versehen, zuschneiden, zusammenkleben, lochen und tackern. Einer bekommt einen wohlsortieren Materialien- und Werkzeugkoffer. Im Koffer des anderen das gleiche Equipment – allerdings ist die Tesa-Rolle leer, der Tacker funktioniert nicht richtig, und zudem liegt alles kreuz und quer durcheinander.

Logisch, wer seine Aufgabe schneller erledigt. Derart sensibilisiert sind die Traum-Fabrik-Leute neugierig auf die konkrete Umsetzung der Theorie, die der Tempus-Mann ihnen zuvor in einer knappen Stunde vermittelt hat. Seine Anweisungen haben es in sich: Alle Ablageschalen bis auf einen müssen vom Schreibtisch. Dort kommen nur aktuelle Unterlagen rein. Und die werden jeden Tage abgearbeitet oder abgelegt. Laufende Projekte landen zum schnellen Zugriff klar gegliedert in Hängeordnern oder Fächermappen. Ganz wichtig ist die Beschriftung – schließlich soll auch die Vertretung sich ohne Suchen zurechtfinden. Stifte und Co. gehören in die oberste Schublade – am besten in einen Rollcontainer, in dem auch Tacker, Kleberolle und Konsorten ihren Platz finden. Motto: Alles hat einen Platz, alles hat seinen Platz.

„Am wichtigsten finde ich das Ausmisten und Wegwerfen, das hat was Befreiendes“, mein Steffen Wrona. der sich um die Warenbestellungen des Schlafspezialisten kümmert. „Es ist schon beeindruckend, was wir ansammeln, ohne es wirklich zu brauchen.“ Unterlagen, die er später lesen möchte, räumt er konsequent in ein eigenes Fach im Schrank. Wieder ein Stapel weniger auf dem Schreibtisch. Auch im Schrank darf der umquartierte Stapel nicht unbeobachtet vor sich hin wachsen. Von Zeit zu Zeit soll der Bürokaufmann ihn von unten her leeren. Die Erfahrung zeigt, dass die unteren Papiere meist nicht mehr wichtig sind. Magazine und Zeitungen, von denen er sich nicht trennen kann, soll er in eine Kiste packen und auf den Speicher stellen. „Ist die Kiste nach einem halben Jahr immer noch ungeöffnet – wegwerfen“, sagt Lechner. Wronas Schreibtisch ist jetzt ordentlicher. Und im Archiv ist wieder Platz.

Man muss es regelmäßig machen

Zukünftig will sich der 33-Jährige mindestens einmal im Jahr die Zeit nehmen, Verzichtbares zu identifizieren und in den Schredder zu füttern. Er erkennt, dass viele Dokumente doppelt, nämlich elektronisch und in Papierform, archiviert sind. Eine gute Datensicherung macht aber einen großen Teil der Papierablage überflüssig. „Eigentlich ist die Aufräumerei ziemlich simpel, man macht’s nur zu selten“, bekennt Steffen Wrona.

Die simplen, kleinen Maßnahmen, fortlaufend umgesetzt, machen den Erfolg des Büro-Kaizen aus. Jeder beim schwäbischen Schlafexperten weiß jetzt, dass Unterlegen für Kollegen in die einen Posteingangsschale auf deren Schreibtisch gehören – und zwar ausschließlich dort hin. Wer morgens in sein Büro kommt, braucht neben den E-Mails nur diese Schale zu checken. Das erleichtert systematisches Abarbeiten. Und Doppelablage war gestern. Da achten alle drauf. Traum-Fabrik-Chef Maier selbst will es bei der einmaligen Aktion nicht belassen: „Der nächste Termin mit Lechner steht schon – damit wir noch ein bisschen besser werden.“


Evelyn Keßler